22. Januar 2015
Leserbrief zum Hungerproblem in Grossbritannien (NZZ-Artikel vom 9.12.2014)
Der NZZ vom 9.12. konnte man entnehmen, dass es in Grossbritannien ein Hungerproblem gibt.
Dabei wurde darauf hingewiesen, dass es auch in anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich ähnliche Probleme gäbe, allerdings in abgeschwächter Form.
Diese Meldung ist in mehrfacher Hinsicht skandalös:
- Dank der Technik wird die Automatisierung vorangetrieben, was die Produktivität steigern sollte. So wird der technische Fortschritt ja begründet. Stattdessen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Segnungen der Technik in den unteren Einkommenssegmenten nicht nur nicht ankommen, sondern, dass sich die Lage der Ärmsten verschlechtert
- Die herrschenden Politiker tun nichts. Seine „im Umbau befindlichen Sozialgesetze“ … „folgen dem Gebot, die Sozialausgaben zurückzubinden.“ Als Grund wird angeführt, dass der Staat hochdefizitär sei. Aber ein Defizit entsteht ja als Differenz von zwei Beträgen, nämlich der Einnahmen und der Ausgaben. Anstatt die Ausgaben zu reduzieren, könnte man ja die Einnahmen erhöhen, sprich mehr Steuern verlangen. Dies ist nicht nur moralische geboten, um das Los der Armen zu verbessern, es ist auch möglich, denn der Reichtum der Reichen hat zugenommen. Ein vernünftiges Steuersystem würde die nötigen Sozialausgaben ohne weiteres sicherstellen.
- Die Hauptschuld an der gegenwärtigen Misere tragen die Ökonomen. Die grosse Mehrheit dieses Berufsstandes hat die Politiker ermuntert, zu deregulieren, die Marktwirtschaft zu fördern, und Umverteilungen abzuschaffen. England war vorne weg bei der Deregulierung und beim Rückbau des Staates. Die unsichtbare Hand des Marktes, so glaubte man, würde es schon richten, und ein Gleichgewicht herstellen. In diesem Gleichgewicht ist zwar Ungleichheit möglich, aber man glaubte, dass sie sich in Grenzen halten würde. Wenn dies durch Fakten nicht bestätigt wurde, hiess es, der Markt sei immer noch nicht genügend dereguliert. Offenbar handelt es sich hier um keine empirische, sondern um eine theoretische Aussage. Es handelt sich hier um sehr anspruchsvolle Theorien, welche aber den meisten Ökonomen unbekannt zu sein scheinen. Sonst wüssten sie, dass in Modellen der Marktwirtschaft sich nur unter sehr strengen und unrealistischen Voraussetzungen ein Gleichgewicht einstellt.
- Man kann einwenden, dass Steuererhöhungen nur schwer politisch durchzusetzen sind. Hier müsste eben die ganze politische Diskussion anders geführt werden. Heute lautet unsere Grundhaltung, dass rational ist, wer sich am eigenen Vorteil orientiert. Das mag in vielen Situationen auch sinnvoll sein. Aber als generelles Prinzip ist dies unzureichend. Denn dann wäre ja jede nichtegoistische Haltung irrational, also dumm. Stattdessen sollten wir erkennen, dass wir aufeinander angewiesen sind, und zur Rationalität nicht nur die eigenen, sondern auch die Interessen des anderen gehören.
Günter Baigger